Das auf der Grafik abgebildete Labyrinth hat nicht einen sondern zwei Eingänge, das ist nach meiner Forschung die Form des Kretischen Labyrinths. Es handelt sich hier um ein siebengängiges Labyrinth, das sich spiralförmig aus einer einzigen Mondbahn und Sonnenbahn zusammenfügt, und deshalb ist es ein Zeichen der Zeit für die Umlaufbahnen von Sonne und Mond.
Die sieben Pfade des Labyrinths verlaufen zwischen drei Sonnenbögen und vier Mondbögen. Bei den Sonnenbögen handelt es sich, von innen nach außen betrachtet, um den Sonnenbogen zur Winter-Sonnenwende, darüber um die Sonnenbögen zu den Tag- und Nachtgleiche im Frühjahr und im Herbst und um den Sonnenbogen zur Sommer-Sonnenwende. Die vier Mondbahnen stehen für die auf- und absteigenden Umläufe im Jahreslauf und für die vier Mondphasen. Bei dem untersten Bogen handelt es sich um den Dunkelmond zu Allerseelen, darüber um die zunehmende Mondsichel zu Lichtmess, darüber um den Vollmond zu Walpurgis und darüber, und zuoberst, um die abnehmende Mondsichel zu Erntedank.
Die Sonnen- und Mondbahnen und die Mondphasen sind aus geozentrischer Sicht mit dem Auf und Ab der beiden großen Gestirne identisch. Dieses Labyrinth kann von zwei Seiten gleichzeitig durchschritten werden und mögliche Begegnungen finden auf dem höchsten Punkt statt.
Meiner Forschung nach handelt es sich bei dieser Form des Labyrinths um einen zweijährigen Lunisolar-Kalender, der als vierter Teil im achtjährigen Zyklus der Venus intergriert war. Das Kretische Labyrinth muss folglich aus vier Labyrinthen bestanden haben, von der Form her identisch mit dem Gordischen Knoten.
Das Kretische Labyrinth war ein Zeichen der Zeit für das „Große Jahr", das war zur damaligen Zeit ein geläufiger Kalenderzeitraum, der acht Sonnenjahre und drei Mondmonate umfasste. Ich nehme an, dass in der Hochkultur Kretas vor 6.000 Jahren ein zyklisch auftretendes Ereignis bei dem Erscheinen der Venus festlich begangen wurde und dass deshalb das Labyrinth zum Erscheinen der Göttin mit Tänzen durch vier Labyrinthe dargestellt wurde. Zeremonien, die mich das vermuten lassen, sind in den Wandmalereien des Palastes von Knossos erhalten.
Ein Labyrinth ist ein kleines Echo der kosmischen Zeitordnung, die die Erde umgibt. Es kann ein Seelentrost sein in der heutigen Zeit, denn die Zeit, nach der wir leben, wurde ihrer zyklischen Dimensionen beraubt. Ich vermute, dass die unzähligen Labyrinthe in westlichen Ländern aus der Sehnsucht nach zyklischer Ordnung und Maß erbaut worden sind.
Ich glaube, das Gehen und Tanzen im Labyrinth kann dem Herzen Ruhe schenken. Menschen strahlen, Kinder jubeln, Begegnungen finden statt, ein Lächeln im Vorübergehen, ein Moment der Gemeinsamkeit im Hin und Her und im Hier und Jetzt, der Geist wird geweckt, die Kräfte gestärkt, das Interesse an der Welt, für Andere und Anderes erwacht. Die Augen öffnen sich für den Zauber des Labyrinths, für die Ruhe in der Bewegung, für das Leben im Moment.
- „Rundes Labyrinth mit sieben Umgängen und Eingang oben rechts; ca. 190 bis 100 v.Ch".
aus Hermann Kern: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen.
"5000 Jahre Gegenwart eines Urbildes", Prestel Verlag München 1983, 66f - „Das Labyrinth im Werftpark von Kiel" Grafik von Irene Wendler
- „Prozession auf einer Wandmalerei im Palast von Knossos", Kreta ca. 3500 v.u.Z.
- „Reigentanz auf einer Wandmalerei im Palast von Knossos", Kreta ca. 3500 v.u.Z.